Geschichten

Stefan

Stefan

Stand Oktober 2022

Ich wuchs „ganz normal“ auf – als Mädchen. Als Kind wurde ich aber immer für einen Jungen gehalten, weil ich – bis auf einige Ausnahmen – immer nur Hosen und Pullover trug. Auch als ich eine Brille bekam, suchte ich eine „Jungsbrille“ aus. Die Gestelle für Mädchen waren mir viel zu bunt und so. Beim Spielen habe ich mich immer mehr an Jungs orientiert als an Mädchen. Trotzdem war ich fest davon überzeugt, dass ich ein Mädchen bin.

Als meine Klassenkameradinnen in die Pubertät kamen, konnte ich immer nur sagen: „Bei mir ist es noch nicht so weit“. Gedanken deswegen habe ich mir nicht gemacht, war eher froh, dass es bei mir noch nicht begonnen hatte. Ich mochte mich gar nicht schon wieder mit etwas neuem befassen, vor dem ich auch nicht einmal weglaufen konnte. In dieser Zeit fühlte ich mich immer mehr außerhalb der Gemeinschaft der Klasse zu Mädchen aber auch zu den Jungen. Dann kam der Moment, in dem ich dachte, dass ich unfruchtbar bin, woher dieser Gedanke kam, weiß ich nicht, es war halt so ein Gefühl.

Mit 17 konnte ich dann wirklich nicht mehr weglaufen, meine Mutter meinte, wir müssten jetzt mal zum Frauenarzt, das kann ja nicht so weitergehen. Bis dahin bin ich immer schön ruhig geblieben, weil ich gar nicht zum Arzt wollte, ich hatte fast panische Angst vor allen Ärzten. Jetzt wurde also zuerst eine Hormonuntersuchung gemacht mit dem Ergebnis, dass alles in Ordnung ist, nun sollte eine Chromosomenanalyse mehr Aufschluss bringen, dafür wurde ich ins Krankenhaus überwiesen. Die Chromosomenanalyse ergab dann 46XY/45XO. Zum Termin für die Diagnose bin ich wieder mit meiner Mutter hingefahren. Der Arzt hat uns beiden „alles“ erzählt, über Chromosomenmosaik, reine Gonadendysgenesie bis zur seiner Meinung nach nötigen Operation, der Gonadektomie. Ich sollte dann Hormone bekommen, um mich „richtig“ zu entwickeln.

Auf der Fahrt nach Hause haben meine Mutter und ich noch ein wenig über die Diagnose gesprochen, zu Hause angekommen wurde dann zur Tagesordnung übergegangen. Ich fand das ganz in Ordnung, hatte der Arzt doch gesagt, dass ich nichts Gefährliches habe und ganz normal ohne Einschränkungen leben könnte, bis auf die Fortpflanzung eben. Das ahnte ich ja schon vorher und damit konnte ich leben. Somit hatte ich auch keine Veranlassung das Gespräch mit meinen Eltern zu suchen. Ich denke, mir hat dieses Verhalten meiner Eltern das Gefühl der Normalität gegeben, es wurde nichts überbewertet oder totgeschwiegen.

Ein Jahr später wurden dann die Gonaden entfernt. Nun hatte ich alles überstanden – dachte ich. In meinem Umkreis habe ich immer freimütig von meiner Diagnose erzählt. Das einzige Problem dabei war, wenn manche mir das einfach nicht glauben wollten und in tröstendem Tonfall versicherten es sei schon alles in Ordnung mit mir. Es war auch alles in Ordnung mit mir, nur eben in anderer Ordnung.

Mit 21 habe ich geheiratet. Mein Mann wusste von meiner Diagnose und hat mich so akzeptiert wie ich bin. Ein paar Jahre später bekamen in seinem Bekanntenkreis alle nach und nach Kinder. Das war für mich manchmal eine schwere Zeit. Trotzdem haben wir eine Adoption nicht wirklich in Erwägung gezogen. Die Ehe wurde nach 6 Jahren geschieden, bei der Trennung spielte mein körperliche Definition keine Rolle.

Ich lebte dann mit meinem neuen Partner so vor mich hin, bis ich mit 33 Jahren – endlich mit Internet versorgt – anfing, eine Selbsthilfegruppe zu suchen. Die Ärzte hatten mir gesagt, es sei sooo selten und sie könnten keine Kontakte herstellen, jetzt wollte ich es selber wissen. Zuerst habe ich nach Klinefelter gesucht, da viele Hörer meiner Diagnose mich dort einordnen wollten. Nach der Lektüre der Website fühlte ich mich genötigt, nochmal genau meine Unterlagen anzuschauen, ob ich nun 47XXY oder 46XY bin.

Mit aufgefrischtem Wissen über mein 46XY bin ich wieder in die Suchmaschine und habe dann relativ schnell auch die XY-Frauen gefunden. Jetzt ging es erst richtig los. Nach meiner Kontaktmail bekam ich eines Tages 6! Antworten. Das war ein Gefühl wie aus der Wüste zu kommen. Kurz darauf hatte ich dann den ersten bewussten Kontakt mit einer anderen XY-Frau. Das war ein ganz aufregender Moment. Aus heutiger Sicht bemerke ich, wie scheu wir mit der Intersexualität umgingen. Es war, als ob wir etwas Ungehöriges tun. 

Im nächsten Jahr kam die Vereinsgründung, nun gab es uns ganz offiziell, sogar bei Gericht. Das war für uns ein großer Schritt, der auch ein neues Bewusstsein möglich machte. Zu dieser Zeit konnte ich auch dieses „Frau sein müssen“ loslassen und mein Leben als intersexueller Mensch führen. Das war ein Geschenk aus dem Zusammensein. Es folgten die Abneigung gegen die Östrogenbehandlung und über noch ein schlimmeres Präparat landete ich dann bei Testosteron. Jetzt begann eine ganz spannende Zeit, würde ich mich verändern, nicht nur körperlich? Ich war mir nicht sicher, ob mein Wesen sich vermännlichen würde.

Mit neuem Mut begann ich dann noch andere Probleme meines Lebens mit einer neuen Therapie anzugehen, einige Jahre brauchte ich dazu und landete währenddessen ganz unten in den Abgründen des Leids. Nach und nach habe ich mich wieder in ein relativ stabiles Leben gearbeitet, es war sehr arbeitsreich. Wobei sich wieder zeigt, dass man Veränderungen nur machen kann, wenn man den Istzustand akzeptiert. Das ist bei Intersexualität nicht anders.

Während dieser Jahre hat sich auch die Sicht auf mein Geschlecht, die Diagnose und die Mitteilungsart der Medizin verändert. Ich finde es heute sehr schlimm, dass ich von der Medizin dermaßen standardisiert in das weibliche Geschlecht sortiert wurde, obwohl gerade diese Ärzte den Chromosomensatz bestimmt hatten und sich mit der Biochemie auskannten. Sie „rühmten“ sich mit ihrem Fachwissen und ignorieren unter einem gesellschaftlichen Druck völlig, sich weitergehende Gedanken zu machen, ob ein Mensch mit XY per se weiblich sein kann. Bei anderen Menschen in der Selbsthilfe war der Chromosomensatz scheinbar für die Geschlechtszuweisung ausschlaggebend, obwohl die Person damit später so gar nicht einverstanden war. Diese Ungleichbehandlung belastet mich bis heute. Seinerzeit habe ich mehr als 14 Jahre verzweifelt versucht, diese erneute Geschlechtszuweisung zu leben, es hat nur nie geklappt. Dafür wurde mein Körper sehr durch die Hormonbehandlung verändert, und es ist nicht mehr umkehrbar. Wenigstens der Stoffwechsel funktioniert durch Testosteron jetzt besser, mit den anderen „körperlichen Auffälligkeiten“ muss ich nun wohl leben.

Seit 2011 gibt es die SHG Intersexuelle Menschen. Ich habe gemerkt, dass ich mich nicht mehr als Frau sehe, nicht mal mehr als XY-Frau. Daher gibt es meine Geschichte nur hier. Als Gegengewicht zu meinem eindeutig weiblichem Vornamen habe ich mir dann einen männlichen Vornamen ausgewählt, unter dem diese Geschichte auch veröffentlicht wird. Ein gesundes Maß an Provokation hält die Gesellschaft wach….

Die Jahre vergingen, wir bekamen eine Änderung des Personenstandsgesetzes und mein Personenstand „weiblich“ wurde nach einem Gerichtsbeschluss auf Antrag als unwirksam erklärt. Kurz darauf gab es das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, dass die Gesetzgebung in Deutschland eine positive Eintragungsmöglichkeit für Identitäten, die nicht männlich oder weiblich waren, schaffen muss. Das war dann ein Jahr später hergestellt. Ende 2018 trat das Gesetz in Kraft, dass das Personenstandsgesetz so änderte, dass jetzt vier Möglichkeiten zum Eintrag des Personenstands vorhanden waren. Außer weiblich und männlich war ich bereits ohne Geschlechtseintrag, jetzt kam der Eintrag „divers“ hinzu. Das war für mich endlich der Weg, authentisch eingetragen zu sein. 2019 bin ich dieses angegangen und einige Zeit darauf konnte ich die Erklärung beim Standesamt abgeben. DAS war ein sehr schöner Tag. Mit der Änderung habe ich vor meinen weiblichen Vornamen noch einen geschlechtsneutralen Namen gesetzt. Das männliche Gegengewicht ist weiterhin nur hier vorhanden und in der Selbsthilfegruppe bekannt.

Nun begann die Zeit, divers bei allen Stellen kenntlich zu machen, hier traf ich auf Barrieren, die teilweise schwer zu durchbrechen waren, teilweise auch noch bestehen. Es wird noch eine Herausforderung, bis auch diese Barrieren abgebaut sein werden.

2021 haben sich der Verein und die Selbsthilfegruppe dann von intersexuelle zu intergeschlechtlich umbenannt. Das sollte dafür sorgen, dass Intergeschlechtlichkeit nicht immer mit einer sexuellen Orientierung verwechselt wurde. Es geht dabei ja nicht um eine Interaktion mit anderen Menschen, sondern um unser Sein.

Nach und nach brechen wir diese zweigeschlechtlichen Mauern auf, die Gesellschaft zeigt sich immer offener dafür und eine allgemeine Akzeptanz von mehreren Geschlechtern und geschlechtlichen Selbstbezeichnungen wird sichtbarer. Es gilt, darauf zu achten, dass dieser Prozess weiter geht.

Stefan